Erklärung 2 – Lassen Sie uns über Mülltonnen reden

Es ist schwierig zu beschreiben, welches krasse Missverhältnis besteht, zwischen dem was im Prozess – im Namen des Rechts – verhandelt wird und dem, worüber wir verhandeln sollten, um einer gerechteren Gesellschaft wirklich näher zu kommen.

Wir sind angeklagt, eine Sachbeschädigung versucht zu haben. Wegen der vermeintlichen Tat wurden wir von verkleideten, bewaffneten Männern überfallen, geschlagen, entführt und hiernach für fast zwei Tage der Freiheit beraubt. Bei dem Überfall in einer dunklen Seitenstraße in Altona sollen wir Widerstand geleistet haben.
Eine versuchte Sachbeschädigung ist ein Antragsdelikt. Die Eigentümer der Mülltonne verzichteten auf ihr Recht auf Rache, denn einen Schaden hatten sie ja nicht. Die Staatsanwaltschaft verzichtet darauf nicht, denn es gäbe ein öffentliches Interesse daran, wer verdammt nochmal eine Mülltonne in Altona habe beschädigen wollen.
Die Frage ist, welches Interesse hier vorliegen soll. Soll der oben geschilderte bewaffnete Überfall auf uns gerechtfertigt werden, oder sollen wir kriminalisiert werden, weil es an diesem Tag ein „Festival der Demokratie“ in der Stadt gab – also ein Treffen von Monarchen, Autokraten, Wahlfälschern, Putschisten und anderen Herrschaften -, gegen das wir protestierten?
Dieses Treffen nannte sich G20. Ich bin der Meinung dieser ganze Fall würde ohne diesen Kontext nicht verhandelt werden. Darum will ich verraten, warum ich an diesem Wochenende nach Hamburg gereist bin.

Es war jedenfalls nicht die Aussicht auf Fischbrötchen und Hafenrundfahrt. Für manche Beobachter*innen scheint schon skandalös zu sein, dass ich für eine Meinungsäußerung von Berlin nach Hamburg gereist bin. Während der zweitägigen Haft wurde ich von Justizbeamten immer wieder gefragt, ob ich aus Hamburg komme. Dabei ging es beim G20 nicht um die Stadt Hamburg. Es war ein antidemokratisches und autoritäres Treffen von globaler Bedeutung. Warum hätten nur Hamburger*innen dagegen protestieren sollen? Irgendwie ist all den Leuten gar nicht aufgefallen, dass Trump, Erdogan, Temer, Macron oder Putin und ihre Gefolgschaften weder aus Hamburg stammten, noch hier wohnen.

Der G20 in Hamburg war ein Treffen, über das jede*r eine Meinung hat, aber von dem heute fast niemand weiß, worüber eigentlich gesprochen wurde. Egal wen man fragt, Verwandte, Freundinnen oder Kollegen – man blickt in ahnungslose Gesichter.

Dabei trafen sich die obersten Vertreter*innen der 19 führenden Wirtschaftsnationen der Welt und der EU, sowie IWF, Weltbank, OECD, usw.
Zufälligerweise sind diese 19 Nationen die gleichen, die über die größten Armeen der Welt verfügen und unzählige Kriege führen, z.B. im Yemen, in Libyen, in Syrien oder in Mali. Es sind die Nationen, die den weltweiten Waffenhandel anführen. Die, die mit gezielten Subventionen die Agrarmärkte anderer Länder zerstören und indigene Ländereien enteignen. Die Atomkraftwerke bauen und Gentechnik durchsetzen. Die Abholzung der Regenwälder verantworten und für das Gro der Klimaerwärmung verantwortlich sind. Die derzeit die Digitalisierung der Welt vorantreiben und Formen von Überwachung betreiben, die vor Jahren noch undenkbar waren. Die Migration durch Krieg, Verarmung und Unterstützung von autokratischen Regimen erst erschaffen, und die Migrant*innen dann entrechten, um sie als billige Arbeitskräfte auszubeuten oder wahlweise wieder loszuwerden oder gleich in Wüsten, Gebirgen und auf Meeren verrecken zu lassen.
Wesentliche Probleme wie Hunger, sauberes Trinkwasser, Bekämpfung von Krankheiten, Klimaschutz oder die Abschaffung von Atomwaffen werden nicht effektiv besprochen.
Die G20 sind ein Symbol für das globale kapitalistische Wirtschaftssystem, das diese und weitere soziale und ökologische Verheerungen hervorruft.
Wer kann nach dieser Aufzählung ruhig sitzen bleiben und das einfach hinnehmen?
Auch wenn ich direkter Nutznießer dieses Systems bin, musste ich dagegen protestieren.

Dazu kommt die besondere Rolle Deutschlands. Heuchlerisch werden Werte der Aufklärung postuliert, die dann selbst nicht eingehalten werden. Während öffentlich Menschenrechte hochgehalten werden, werden Panzer in die Türkei verkauft, mit denen wissentlich kurdische Gebiete in der Türkei und völkerrechtswidrig in Syrien dem Erdboden gleich gemacht werden.
Damit das System stabil bleibt, damit Handelsrouten, Rohstofflieferungen und Migration in geordneten Bahnen verlaufen, werden fundamental-religiöse Regime, wie eben die Türkei, oder sogar eine fundamental-religiöse Monarchie wie Saudi-Arabien als hoffähig betrachtet. Völkerrechtswidrige Kriege der NATO werden akzeptiert und unterstützt. Griechenland und andere EU-Staaten werden im Euro-Raum wirtschaftlich ausgenommen und unter Privatisierungsdruck gesetzt, wie Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung. Diese Liste würde nicht enden wollen. Über jeden weiteren Staat der G20, könnten Seiten geschrieben werden.

Aber können einzelne Wirtschafts- und Staatenlenker wirklich all diese Missstände beheben? Selbst, wenn sie ein Interesse daran hätten – Nein, natürlich nicht! Innerhalb dieser Logik gibt es keine Lösung für Krieg, Hunger, Durst und ein Leben, in dem jeder Mensch eine Chance bekommt, sich nach seinen Fähigkeiten, Vorlieben und Bedürfnissen frei und gleich zu entfalten.

Dieses globale System existiert für den materialistischen Wohlstand weniger – auch mir – auf Kosten extremer sozialer und ökologischer Verheerungen.

Der G20 war ein Symbol dafür und deswegen war es notwendig, sich eindeutig dagegen zu positionieren, wie es in vielen verschiedenen Formen geschah.

Über diese Missstände und ihre Auflösung sollten wir sprechen.

Aber wie Sie wollen: Lassen Sie uns über Mülltonnen reden.